Ostern in Heiligendamm, das ist auch bei mäßigem Wetter ein schönes Szenario. Und noch schöner, wenn man ein dazu passendes Buch wie „Wellen“ von Eduard von Keyserling im Gepäck hat. Es spielt nämlich an der Ostsee, allerdings nicht in Heiligendamm, sondern weiter nordöstlich im lettischen Kurland. Ich habe diesen kleinen feinen Roman vor Jahren schon einmal gelesen. Und ich muss sagen, dass auch jetzt beim Wiederlesen nichts von seiner Wirkung verloren gegangen ist. Nichts Abgeschmacktes, nichts Verstaubtes findet sich auf diesen Seiten.

Und das, obwohl das Buch schon 1911 geschrieben wurde. Von einem durch eine Syphilis-Erkrankung erblindeten Mann, der immer wieder die baltische Adelsgesellschaft beschrieb, der er entstammte.
Eine versunkene Welt also, deren enge Konventionen hier ziemlich präzise und unvoreingenommen geschildert werden. So ein bisschen wie bei Fontanes „Effi Briest“ oder Gustave Flauberts „Madame Bovary“, beides echte Meisterwerke. Doch gelingt es Keyserling fast noch mehr als diesen beiden, aus seiner Epoche „herauszutreten“ und überzeitliche „Irrungen und Wirrungen“ des menschlichen Lebens zu schildern. Die hochfliegende Liebe, die sich am Alltag stößt, Selbstbetrug und das Verwirrspiel übersteigerter Gefühle und vor allem die Unfähigkeit zu kommunizieren.

Die Geschichte selbst ist schnell erzählt: Beim Badesommer an der Ostsee trifft die adelige Familie von Buttlär auf ein junges, nicht „standesgemäßes“ Paar. Den Maler Hans Grill und seine Frau, die schöne Doralice, die zusammen durchgebrannt sind. Doralice war zuvor mit einem sehr viel älteren Grafen verheiratet. Trotz des damals unerhörten Skandals kommen sich die Romanfiguren in dem Ferienambiente des Fischerdorfes näher. Die beiden gerade erwachsenen Töchter und der Sohn der Familie schwärmen für Doralice. Der Schwiegersohn in spe verfällt ihr sogar förmlich, und auch Baron von Buttlär macht ihr Avancen. Die junge adlige Frau selbst ist hin- und hergerissen zwischen ihrer Liebe zu Hans und der Unfähigkeit, den faden, Alltag ihres nun kleinbürgerlichen Daseins zu ertragen. Im Hintergrund agieren zudem noch die Großmutter der Familie, die lebenskluge Gräfin Palikow, und der verwachsene, schwer zu durchschauende Geheimrat Knospelius.

Bei all den schönen Dialogen und genialen Personenbeschreibungen (selbst Nebenfiguren wie die verhärmte boshafte Dienerin Agnes stehen einem beim Lesen förmlich vor Augen) bleibt der Protagonist des Ganzen das Meer. Die Ostsee mit ihrem blauvioletten Lichtspiel, dem Auf und Ab der Wellen, mit ihren hellen Schaumkronen und der klaffenden Tiefe des Wassers. „Das Meer macht immer Eindruck“, sagt der eigentlich etwas unsympathische Baron von Buttlär. „Die Unendlichkeit ist eben die Unendlichkeit, nicht wahr?“ Und da hat er natürlich Recht. Am Ende bleiben zwei Gestalten am Meer und ein gähnender Hund zurück. Keyserling ist kein Freund von Pathos. Sein Ton klingt leicht ironisch und dennoch einfühlsam. Diese Balance zu halten ist ziemlich schwer. Aber ihm gelingt dies spielend. Unbedingt lesen!

Eduard von Keyserling: „Wellen“, Manesse 2011, € 19,95, ISBN: 978-3-7175-2266-9.